Abschiedspredigt von Pfarrer Götze

Am 16. September 2018 hielt Pfarrer Jürgen Götze in der vollbesetzten Festhalle Ölbronn seine Abschiedspredigt. Auf vielfachen Wunsch hin wird sie hier im Wortlaut veröffentlicht. Er predigte über den für diesen 16. Sonntag nach Trinitatis vorgesehenen Text asu Apostelgeschichte 12,1-11: Die Befreiung des petrus aus dem Gefängnis.

Auf der Bühne sitzend von links: Stfean Huschitt (1. Vorsitzender), Pfr. Jürgen Götze, Dekan Jürgen Huber. Foto: Anne Gienger

Liebe Festgemeinde!

 

Sind Sie schon mal von jemand unsanft aus Ihren Träumen gerissen worden? Vielleicht sogar mit einem Fußtritt in die Seite? Nein? – Schade. Manchmal brauchen wir das. Manchmal muss uns jemand aus unseren Träumen wecken und uns in die Realität zurückholen. Träumen reicht nicht. Wer träumt, handelt nicht. Wer träumt verpasst oft die Chance, etwas zu ändern. Freiheit wird erkämpft, nicht erträumt.

Deutschland träumt. 70 Jahre Frieden in Europa haben uns müde gemacht. Wir träumen, dass das jetzt immer so weitergehen müsse. Wir träumen, dass der braune Spuk der Nazizeit schon endgültig verscheucht sei. Wir träumen, dass Demokratie und Freiheit etwas Selbstverständliches seien. Wir träumen, dass Fortschritt und Wachstum ins Unendliche gesteigert werden können und alle davon profitieren würden.

Dabei haben wir schon einige Fußtritte bekommen. Europa hat tiefe Risse bekommen. Die Engländer rufen „Brexit“ und verabschieden sich. Ungarn und Rumänien scheren aus der Wertegemeinschaft Europa aus. Populisten und Nationalisten blasen zum Sturm auf Europa.

Die AFD sitzt als stärkste Opposition im Bundestag. Neonazis sind schon lange keine Randerscheinung mehr in Deutschland. Immer deutlicher wird, dass ihr Einfluss manchmal bis auf Regierungsebene reicht. Die Frage ist gar nicht mehr, ob etwas wahr oder gelogen ist, sondern wer bestimmen darf, was Fakenews sind und was Lügenpresse ist.

Der härteste Tritt, den wir abbekommen, sind aber die Bilder und Zahlen von den Bootsflüchtlingen im Mittelmeer. Wie können wir das eigentlich aushalten und friedlich weiterschlafen?

In unserem Predigttext heute träumt Petrus. Er schläft nicht gerade komfortabel, sondern festgekettet zwischen zwei Soldaten auf dem Kerkerboden. Aber er schläft. Wer so schlafen kann, muss schöne Träume haben. Vielleicht träumt Petrus, dass er frei und sicher bei Freunden ist. Vielleicht träumt er sogar, dass er tapfer und stark den Märtyrertod sterben wird, wie vor kurzem sein Glaubensbruder Jakobus. Oder er träumt, dass ein Wunder geschieht und er den Klauen des Herodes entkommt. Jedenfalls schläft er und muss erst mit einem Tritt in die Seite in die Realität zurückgeholt werden.

Wir hören den Predigttext aus der Apostelgeschichte des Lukas Kapitel 12, die Verse 1-11

1 Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln.

2 Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.

3 Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote.

4 Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Abteilungen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Passafest vor das Volk zu stellen.

5 So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.

6 Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis.

7 Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen.

8 Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!

9 Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen.

10 Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Gasse weiter, und alsbald verließ ihn der Engel.

11 Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.

Gotteswort im Menschenwort. Amen.

Während Petrus immer noch zu träumen meint, handeln andere. Die Gemeinde betet ohne Aufhören zu Gott und ein Engel Gottes erscheint in der Gefängniszelle und weckt den Träumer mit einem tritt in die Seite: „Steh schnell auf. Zieh dich an. Folge mir.“ Dann fallen Ketten, Türen öffnen sich, Wachen bewachen nicht mehr.

An dieser Geschichte ist Vieles merkwürdig.
Nicht nur, ob so etwas wirklich möglich ist. Mir kommt die Geschichte vor wie ein Protestplakat gegen alle Herodese dieser Welt. Plakativ verkündet sie: Glaube sprengt Ketten! Beter überwinden Tyrannen! Engel wecken Träumer! Gott führt aus dem Tod zum Leben.

Deshalb ist es auch eine zutiefst politische Geschichte. Christlicher Glaube und Gebet sind immer auch eine politische Stellungnahme.

Witzig ist, dass der König gar nicht ‚Herodes‘ heißt, sondern Markus Julius Agrippa der I. Der Erzähler nennt ihn Herodes, damit klar wird, das ist derselbe Typ König, wie der Herodes, der Johannes enthaupten lies und der sich mit Pilatus gegen Jesus verbündete. Sensationsgier, Überheblichkeit, Menschenverachtung und Kumpanei der Mächtigen zeichnen diesen Typus von König aus.

Unser Predigttext erwähnt auch, dass das alles am Passahfest geschah, wie damals, als Jesus verhaftet wurde. Am Passahfest gedenken die Juden ihrer Befreiung aus der Hand des Pharao in Ägypten, auch ein solcher ‚Herodes‘. Die Botschaft ist klar: Gott befreit aus der Gewalt solcher Tyrannen. Gott führt aus dem Tod ins Leben.

Unser Text ist eine Auferstehungsgeschichte. Wer an Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten und Auferweckten glaubt und zu ihm betet, der kann nicht weiter schlafen und träumen, wenn Gewalt, Unterdrückung und Tod die Herrschaft beanspruchen.

Das geht auch heute nicht. Wir können nicht ruhig schlafen, wenn Flüchtende in Libyen gefangen gehalten und gefoltert werden. Wenn die, denen die Flucht aufs Mittelmeer gelingt, dort von der Libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgebracht werden, die wir extra dafür ausgebildet haben. Wir können nicht ruhig schlafen, während laut neustem Bericht des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in diesem Jahr bereits mehr als 1600 Flüchtlinge auf hoher See ertrunken sind. Im Zeitraum von Januar bis Juli 2018 sei von 18 Menschen, die das Mittelmeer überquerten, einer ums Leben gekommen oder vermisst. Wir können nicht schlafen, während von Seenotrettungsschiffen gerettete Flüchtlinge im Mittelmeer umherirren müssen, weil kein EU-Land sie an Land lassen will? Solche Nachrichten sind ein Tritt in unsere Seite: „Steht schnell auf. Macht euch bereit. Tut etwas. Ihr habt schon viel zu viel Leid verschlafen.“

Stattdessen streiten wir darüber, ob in Chemnitz tatsächlich Ausländer gehetzt wurden und feilschen mit anderen Ländern um winzige Flüchtlingskontingente. Rechtsextremer Fremdenhass ist schlimm, aber bitte: ganz Europa hetzt Flüchtlinge von einer Grenze zur anderen, von einem Lager zum nächsten. Wir wollen das gar nicht schaffen, Flüchtlinge geordnet aufzunehmen und gut zu integrieren.

Wovor haben wir solche Angst? Früher haben wir Christen Missionare nach Afrika geschickt um den Menschen die Frohe Botschaft von Jesus Christus zu verkünden. Jetzt kommen die Ärmsten der Armen zu uns und wir verkünden ihnen, dass unser Geld uns heilig ist und wir uns einen Dreck scheren um unser höchstes und größtes christlichen Gebot: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Wovor haben wir solche Angst, dass wir rassistischer und rechter Hetze plötzlich mehr glauben, als der Stimme Jesu: „Fürchtet euch nicht! Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ Wenn unser Glaube nicht stärker ist, als solche Angstmache, dann liefern wir uns den Schergen des Todes aus.

Kurz, ich mache mir Sorgen um euch, als Gemeinde, als Bürgerinnen und Bürger von Ölbronn und Kleinvillars. Ich mache mir Sorgen, wie meine und eure Kinder und Enkel in Zukunft leben werden.

Wir sind schon mit Kerzen vor der Kirche und an der Hauptkreuzung in Ölbronn gestanden, haben gesungen und gebetet, haben protestiert gegen Unrecht und Kriegshetze, damals als der Irak-Krieg begann. „Glaube sprengt Ketten! Beter überwinden Tyrannen!“ Vergesst das nicht.

Wir haben auch gemeinsam gedankt, damals als die Mauer zur DDR fiel. Auch damals haben Gebete eine wichtige Rolle gespielt.

Wir sind mit Muslimen, Katholiken und allen, denen Menschlichkeit und Frieden am Herzen liegen, vor den Flüchtlingunterkünften gestanden, haben gesungen und gebetet. Wir haben eingeladen zu Begegnungen und Gesprächen bei Kaffee und Kuchen im Steinbeishaus als die ersten Flüchtlinge kamen, damit Fakenews und geschürte Ängste keine Chance haben.

Vergesst nicht, dass so etwas möglich ist und dass es etwas bewirkt. Es sind Signale, Zeichen. Es sind Gottes Spuren in unserer Zeit. Manchmal ist es auch so etwas wie ein Tritt in die Seite der schlafenden Mehrheit: „Steht schnell auf. Macht euch bereit. Jetzt ist noch Zeit zum Handeln. Jetzt kann Freiheit noch erstritten werden.“

Vergesst das nicht! Das ist mein Wunsch, mein Gebet, mein Vermächtnis als scheidender Hirte der Menschen hier.

Amen.